Gestern war ich in der Stadt. Ich hatte einige Dinge zu erledigen, und nachdem alles geschafft war, setzte ich mich auf den Rand des großen Brunnens in der Fußgängerzone und beobachtete die wenigen Menschen, die unterwegs waren. Eine Frau mit einem - wie könnte es in diesem Weblog anders sein - Hund setzte sich in einer höflichen Entfernung von mir ebenfalls auf den Brunnenrand. Später erfuhr ich von ihr, dass es ein Golden Retriever-Münsterländer-Mix war. Er legte sich ohne Aufforderung zu den Füßen seiner Besitzerin und schaute mich an. Ich schaute zurück und konnte mir ein Lächeln nicht verkneifen, als er seinen Kopf ein wenig schief legte und einen Luftstupser in meine Richtung machte. … 

"Das ist Tino und er ist der Meinung, dass Sie ihn gerne streicheln würden", sagte die Besitzerin freundlich, dabei blieb ihr Gesichtsausdruck seriös, nein: ernst. Ich lachte laut auf und dann grinste sie verschmitzt.

Wir kamen ins Gespräch und ich erfuhr, dass Tino ein Second-Hand-Hund ist. Seine Geschichte ist so schön und irgendwie noch nicht einmal untypisch, dass ich sie gerne hier kurz erzählen möchte. Auch und vor allem als Mutmachgeschichte, einen Hund nicht zu schnell aufzugeben.

Tino war als 8 Wochen alter Welpe an eine Familie abgegeben worden. Alles schien zu passen: vier Personen, zwei halbwüchsige Kinder, allerdings litt der Vater unter Depressionen, und genau darum sollte es ein sanfter, einfühlsamer Hund sein. Das war Tino dann leider nicht. Er war ein wilder, ungestümer, ignoranter, unerzogener, untrainierter, rüpelhafter ... Welpe. Sechs Monate später war er das gleiche, nur als Junghund. Die Besitzer hatten zwei Hundeschulen durch, die Kinder keine Lust mehr auf Ballspiele mit ihm, die Mutter keine Lust mehr auf Dauer-Zieh-Spaziergänge an der Flexileine. Er haute im Wald immer ab und begann dann auch noch, andere Rüden anzupöbeln. Die Nerven der Familie lagen blank. Tinos Nerven auch.

In diesem Zustand wurde er in einem Internetportal für wenig Geld mit netten Worten angeboten. Ingrid - die nette Dame an seiner Seite, die gestern neben mir auf dem Brunnenrand saß - fand ihn in der Rubrik "Ältere Hunde". Ingrid arbeitet in ihrer psychologischen Praxis vorwiegend mit Kindern und Jugendlichen, und genau für diese Arbeit suchte sie einen passenden Hund. Ihre kleine alte Hündin war nicht geeignet für das neue Vorhaben und Tino war für sie mit 8 Monaten noch kein "älterer Hund". Dass sie Tino fand - so erzählte sie - war purer Zufall. Ein Wink des Schicksals sozusagen, denn sie hatte keine Ahnung, wie sie über die vielen Links auf das Kleinanzeigenportal gekommen war.

Ingrid besuchte Tino und beide fanden: das passt und es kann was draus werden. Die ersten Tage mit Tino waren ein Horror, die ersten Wochen sehr anstrengend. Er war ein junger, frustrations-intoleranter Rüde im schlimmsten pubertären Alter. Er hatte viel bei seinen Vorbesitzern gelernt, leider nicht das Richtige. Aber lieb war er. Eigentlich. Ingrid holte alles nach, was er verpasst hatten: sie gewöhnte ihn systematisch an Außen- und Umweltreize, trainierte Geduld und Frustrationstoleranz, brachte ihm Sitz, Platz und Fuß bei und - das war das Allerwichtigste - baute mit Ruhe und kleinen Übungen an einer guten Beziehung zwischen ihnen beiden. Ingrid erzählte, die soziale Erziehung war anfangs eine ständige Gradwanderung zwischen starker Belohnung, schnellem und sehr deutlichem Grenzen setzen und ruhiger Geduld. Verstand und Gefühl waren immer im wechselseitigen Kontakt - so beschrieb sie es. Und wie lange hatte es gedauert, bis aus Tino dieser liebenswerte Kerl geworden war, der da zu ihren Füßen lag? Sie lachte. Ein halbes Jahr! Er ist dann noch ein wenig nachgereift, aber eigentlich war er nach einem halben Jahr der Kumpel, den sie sich gewünscht hatte.

Inzwischen ist Tino aus Ingrids Leben und aus dem Leben ihrer beider Klienten nicht mehr wegzudenken. Er ist immer da und stets der Ansprechpartner für schwierige Fälle. Er tröstet, beruhigt und macht lustige Sachen mit Kindern und Erwachsenen. Er lässt sich stundenlang streicheln, zeigt auf die Bitte der Klienten Tricks oder sucht immer wieder unermüdlich Leckerchen und Spielzeuge, die diese in der Praxis verstecken. Er lässt die Menschen den Alltag und ihre Probleme vergessen. Das Leben ist voller Ironie: er macht genau den Job, für den ihn seine erste Familie ursprünglich ausgesucht hatte. Tino ist ein Geschenk für seine Mitmenschen!

Vielleicht sagen jetzt einige: Ja, klar, das weiß doch jeder, dass Welpen und junge Hunde nervig und ungestüm und unerzogen sind. Ich habe des öfteren den Eindruck, dass sich genau das noch nicht herumgesprochen hat. Dem kleinen, süßen Hundebaby verzeiht man gerne die Entgleisungen, da ist das alles noch süß. Wenn der junge Hund das Kindchenschema aber nicht mehr bedient, weil aus dem Baby in rekordverdächtigen wenigen Wochen ein pubertierender Schnösel geworden ist, dann bricht für manche Menschen eine Welt zusammen. Und diesen Menschen kann ich nur immer wieder sagen: durchhalten! Bitte, bitte durchhalten, sich zusammenreißen und sich der Aufgabe stellen, einen tollen Hundebegleiter zu erziehen. Er soll eine Bereicherung für alle werden, keine Belastung. Das kostet Nerven, Zeit und ... Mitdenken.

Tinos Geschichte hat mich berührt und seine Besitzerin hat mich beeindruckt. Ich wünsche ihnen beiden und allen, die Tino brauchen, weiterhin ein wunderbares Leben, viel Spaß miteinander und - vor allem - viel Gesundheit.

Das gleiche wünschen wir allen unseren Lesern und Wegbegleitern auch!

Herzliche Grüße

Ihre Martina Nau
und das Baak-Dogwalker-Team